Der Urteilsstein zu Flamersheim

Von Siegfried Jahnke

Auf dem Marktplatz zu Flamersheim liegt ein unbehauener Felsbrocken. Nur zu seinem geringeren Teil ragt er aus der Erde heraus. Im Ganzen ist er wohl zwei Meter hoch und wiegt geschätzt drei Tonnen. Ein darauf befestigtes Bronzeschild trägt die Aufschrift: „Urteilsstein des alten Gerichtes Flamersheim“. Der Stein könnte Bände erzählen von Recht und Unrecht, von der Sühne kleiner menschlicher Verfehlungen und ungeheuerlicher Verbrechen, aber auch von grausamen Verirrungen der Justiz. Wurden hier doch Urteile über etwa 40 angebliche Hexen gefällt.

   Der Urteilsstein ist ein uraltes germanisches Gerichtssymbol. Bei der Verkündigung des Schuldspruches ließ der Richter das Schwert, Zeichen des Gerechtigkeit und Macht, das bei der Verhandlung sichtbar aufgelegt war, dreimal auf den Stein niederfallen und erklärte damit das Urteil für „gefällt“.

  Flamersheim war im Mittelalter der Hauptort der Herrschaft Tomberg. Die Gerichtshoheit lag in den Händen der Grafen von Tomberg und wurde später von den jeweiligen Grundherren von Flamersheim ausgeübt. Gerichtsplatz war der Markt zu Flamersheim. Die Verhandlungen fanden ursprünglich im Freien, später in einer dort errichteten Gerichtshalle, dem Dinghaus, statt. Das Gericht war ein Schöffengericht.  Den Vorsitz führte der Schultheiß des Grafen. Sechs gewählte Schöffen wirkten bei der Urteilsfindung mit. Zum Bereich des Flamersheimer „Dingstuhles“ gehörten auch die Dörfer Palmersheim, Oberkastenholz, Kirchheim und Hockenbroich.

  Das letzte Flamersheimer Dinghaus stand noch wenigstens bis in die Mitte  des vergangenen Jahrhunderts (Anm: 19. Jh.) am Markt, dort, wo heute das Rasenbeet des Kriegerdenkmals angelegt ist. Als Eigentümer war im Register zuletzt die Königliche Regierung in Köln eingetragen. Es hatte die vorletzte Hausnummer des Dorfes, Nr. 133, und war bewohnt von der Familie Kuhl. Es muss dann zum Abbruch verkauft worden sein. Da das Gebälk des Fachwerkhauses noch gut war, errichtete es der Käufer in der Großen Höhle als Wohnhaus (Anm.: Große Höhle Nr. 30). Diesen Dienst versieht es bis auf den heutigen Tag. Ein älteres Gerichtsgebäude, schöner und stattlicher als das letzte wurde ebenfalls an anderer Stelle wieder aufgebaut. […in der Horchheimer Straße 25.]

  Wo die Landstraße nach Kirchheim stark zu steigen beginnt, liegt die „Hallekul“. Hier stand einst östlich der Straße das Flamersheimer Hochgericht, der Galgen. Der Flurname „Hallekul“ benennt eine kleine Senke, in der die Urteile vollstreckt wurden, die das Gericht in der „Halle“ ausgesprochen hatte. 1760 heißt noch eine andere, näher auf Kirchheim gelegene Parzelle „Am Gerichtsplatz“. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine ältere Ortsbezeichnung, vielleicht sogar um den Thingplatz der ersten fränkischen Siedler.

  Vom Flamersheimer Gericht wurden kleine Vergehen wie Felddiebstahl, Marktbetrug, Beleidigungen oder Volltrunkenheit wie damals üblich mit Geldstrafen (Brüchten), Schandpfahlstehen, Prügel oder Einsperren belegt. Verbrechen wie Mord, Raub, schwerer Diebstahl, Körperverletzung oder Brandstiftung zogen meist die Todesstrafe nach sich. Während die kleineren Delikte (Bagatellsachen) vom Einzelrichter abgeurteilt wurden, trat für Verbrechen das ganze Schöffengericht zusammen. Auch unterstand dem Gericht die Rechtsprechung in Sachen Flamersheimer Erbenwald. Die Vollstreckung der Todesstrafen erfolgte in der „Hallekul“ durch Erhängen oder Rädern. Auch Hexenverbrennungen fanden „in der Hall“ statt. Vor der Vollstreckung wurde über den Verurteilten „der Stab gebrochen“. Der Henker besorgte die Hinrichtung, der Wasenmeister verscharrte den Leichnam im Schindanger. Räuber blieben oft mehrere Tage am Galgen hängen, um andere „Galgenvögel“ davor zu warnen, Verbrechen zu begehen. Vielleicht erklärt man so den hier und da gebräuchlichen Namen „Rabenstein“ für unseren Gerichtsstein (oder Wotans Raben?).

 

Was ist über das Schicksal des Urteilssteines bekannt, was lässt sich vermuten? 

  Es ist denkbar, dass der Stein nach dem Aufbau des heutigen Ortes Flamersheim, also nach der Belehnung des Pfalzgrafen mit dem Tomberger Land, etwa um das Jahr 950 in unser Dorf gebracht wurde. Es ist durchaus möglich, dass schon auf dem Thingplatz des durch die Normannen zerstörten Königshofes Flamersheim seinem Zwecke diente. Bis 1794, als die französischen Revolutionsheere unsere Heimat eroberten, wurde der Stein benutzt. Damals löste man im Zuge der Rechtsreform die grundherrlichen Gerichte auf.       Das Kantongericht Rheinbach übernahm die Funktionen der bisherigen Dingstühle. Nachfolger des Kantongerichtes ist das Amtsgericht Rheinbach, dem unser Dorf heute noch (Anm: 1966) zugeordnet ist.

  Seitdem der Stein seine Aufgabe verloren hatte, störte er. Als im Jahre 1875 der Flamersheimer Markt planiert und mit Bäumen bepflanzt wurde, ging der Stein in den Erdmassen unter. Erst 1911, als unter dem Eindruck der Stärke des Reiches das historische Wertebewusstsein in Flamersheim erwachte, beschloss der „Verschönerungsverein“, den achtbaren Veteranen wieder ans Tageslicht  zu heben und würdig einzufassen. Das Geld brachte man durch eine Sammlung auf. Es reichte auch noch zu jener Bronzetafel, die der Ausgangspunkt unserer Betrachtung war, die auf die Bedeutung des sonst so bescheidenen unbehauenen Brockens hinweist.

 

Der Artikel und das Foto wurden dem Heimatkalender des Kreises Euskirchen von 1966 entnommen. Der Autor war in den 1960er Jahren Hauptlehrer (Schulleiter) der Katholischen Volksschule Flamersheim.